Gedanken zur Ausstellung „Über Freude und Enttäuschungen“ von Angela Stauber und Micha Eden Erdész im Kunstverein Ottobrunn
„Saxa loquuntur“ – „Die Steine sprechen“, lautet eine lateinische Redewendung, deren Ursprung im Dunkel der Geschichte liegt. Auch im Lucas-Evangelium ist sie zu finden (19,40), dort aber – in der deutschen Übersetzung von Martin Luther – „schreien“ die Steine. In den neueren Arbeiten von Angela Stauber und
Micha Eden Erdész sind es weniger die Steine, die aufgrund ihrer Materialität „sprechen“ als die aus ihnen – und anderen Materialien – geformten „Bauwerke“, die individuell gesehen und mit anderen künstlerischen Mitteln gestaltet und interpretiert werden. „Aedificia loquuntur“ – könnte ein Motto ihrer Ausstellung in Ottobrunn lauten.
Beide Künstler projizieren mit ihren je eigenen Mitteln ihre visuellen Eindrücke in die Fläche und laden uns, die Betrachter, dazu ein, an diesem Transformationsprozess teilzuhaben und sich von ihren Interpretationen inspirieren zu lassen. „Bauwerke“, und dies tun schon die ältesten erhaltenen Zeugnisse und Fragmente, spiegeln immer gesellschaftliche, d. h. kulturelle Zustände wider. Die von beiden Künstlern ausgewählten und verdichteten Seherfahrungen beziehen sich jedoch nicht auf historische Bauten und Stadtlandschaften. Sie wollen mit ihren Arbeiten nicht dokumentieren und bewahren, sondern ihre Wahrnehmung von Architektur befragen und reflektieren. Für beide Künstler ist das „fremde Alltägliche“ der Gegenstand ihrer gemalten, gezeichneten, fotografierten und inszenierten Arbeiten. Oder, wie es Duan Hanson einmal formuliert hat: es geht um „just that fixed moment“. Ihre Objekte, Bauwerke und Stadtlandschaften besitzen keine, oder nur eine sehr vermittelte symbolische Dimension.
Bei genauerer Betrachtung stellt sich die Frage, warum und wovon ihre Arbeiten erzählen, ob sie überhaupt etwas erzählen. Der 1975 in Toronto geborene Micha Eden Erdész, der Architektur und Philosophie studiert hat, erläutert seine künstlerische Strategie anhand des großen Foto-Tableaus „Happy Games“, dass das von Günter Behnisch und Frei Otto (1972) entworfene und realisierte „Olympia-Zeltdach“ in München mit seinen Mitteln neu erschafft: Bei einem Besuch in der bayerischen Landeshauptstadt hat er diese Inkunabel moderner Baukunst fotografiert und gefilmt und später bearbeitet und verfremdet. Projiziert auf einen Grund aus Lycra-Gewebe glänzen einzelne Acrylglas-Elemente der Dachkonstruktion im gleißenden Sonnenlicht, Regentropfen fallen aufs Dach, die Pylonen werfen Schatten und die – später hineinkomponierten – senkrechten Schlangen olympischer Ringe strukturieren das Tableau. Ungeachtet seiner Größe wirkt das Bild nicht monumental, sondern subtil, ja geradezu intim – als Darstellung eines wahrgenommenen, festgehaltenen und reflektierten Moments, der sich so nicht wiederholen lässt.
Erdész, der Künstler kanadischer Herkunft, verbindet die Olympischen Sommerspiele von 1972 auch mit einem tragischen Ereignis: dem Angriff palästinensischer Terroristen auf die israelischen Sportler. Mitglieder der kanadischen Wasserball-Mannschaft hatten – naiv und nicht ahnend worauf sie sich einließen – den Terroristen geholfen, den Zaun, der das Olympiadorf eingrenzte, zu überwinden. Einige der kanadischen Sportler, völlig überrascht vom später einsetzenden Terror, fühlten sich mitschuldig und verließen die Spiele. Diese Geschichte ist Erdészs Tableau gleichsam einbeschrieben, aber er trägt sie nicht an die Oberfläche. Er habe kein „Memorial“ schaffen wollen, sagt der Künstler, es ging ihm darum, das Thema mit ästhetischen Mitteln zu bewältigen.
Als Multimedia- besser Intermedia-Künstler schätzt Micha Eden Erdész auch die traditionellen Medien, die Malerei und die Zeichnung. So empfand er es als einen „Glücksfall“, dass es sich bei Angela Stauber, seiner zeitweiligen Nachbarin in einem Londoner Atelierhaus, um eine „wirkliche Malerin“ handelt. Ihre Nachbarschaft mündete in ein Gespräch ein, das bis heute fortgesetzt wird, das produktiv wurde und schließlich zu einer gemeinsamen Ausstellung in Ottobrunn führte.
Angela Stauber studierte Malerei an der Akademie der Bildenden Künste München und schloss ihr Studium 2005 mit dem Diplom als Meisterschülerin bei Sean Scully ab. Auslandsstipendien führten sie in die USA, nach Rumänien und Großbritannien. Ihre Malerei, die immer vom Gegenstand ausgeht und manchmal zu fast abstrakten Formulierungen führt, ist eine mögliche Richtung im überaus vielfältigen, bunten, kaum mehr überschaubaren Spektrum heutiger bildender Kunst.
Die Malerin hat in den letzten Jahren ihres Schaffens verschiedene motivische Linien entwickelt und verfolgt. Ihre Bilder formt sie aus der direkten, sehr genauen Beobachtung – unabhängig davon, ob es sich bei den von ihr beobachteten Motiven um menschliche Körper handelt, um Interieurs – oder eben Bauwerke. Mit anderen Worten: sie sind Zwiegespräche mit dem Gesehenen, die von Situationen, Momenten, Zufällen, von Präsenz und Lebendigkeit handeln. Diese Bilder implizieren ein Werden und Vergehen und können doch nur einzelne Momente festhalten, die, kaum, dass sie erkannt und gebannt wurden, unwiederbringlich verloren sind. Das verbindet sie mit den Arbeiten von Micha Eden Erdész.
Da sich ihr Atelier im Münchner „Werksviertel-Mitte“ befindet, in einer Umgebung also, die einer ständigen, fast täglichen Veränderung ausgesetzt ist, lag es nahe, sich mit eben dieser Umgebung vor ihren Atelierfenstern auseinanderzusetzen.
Mal erweitert sie ihren Blick auf einen größeren Ausschnitt von „Wirklichkeit“, mal verengt sie ihn auf ein Detail, das in ihrer Malerei ein Eigenleben gewinnt. Ihre aus zarten gelben, grünen, blauen und orangenen Farben gebauten, statisch wirkenden Aquarelle, wie dem „light room“, vermeiden das Weiß. Anders verhält sich bei den größeren, lockerer gebauten und expressiveren Acrylbildern auf Papier. Über die Fenster des Ottobrunner Kunstvereins, die sich hinter einem Arkadengang befinden, hat sie mit Klebefolie einen waagrechten Strich gezogen, der wie ein klassisches „Repoussoir“ wirkt. Er wehrt den Blick der Betrachter ab, stößt ihn zurück und weckt zugleich die Neugier auf das dahinter, sich im Ausstellungsraum befindende Bildgeschehen.
„Über Freude und Enttäuschungen“ heißt die Ausstellung in Ottobrunn. Und natürlich bezieht sich der Titel auch auf die aktuelle Situation in der Corona-Pandemie. Aber er weist zugleich darüber hinaus: Auf „Freuden und Enttäuschungen“ als Emotionen, die zu einem nach Substanz strebenden künstlerischen Schaffen notwendig dazu gehören. Beide Künstler haben ihre Ateliers in der Pandemie als Ruhepole inmitten einer von Erschütterungen und Schmerzen heimgesuchten Welt empfunden. Diese Erfahrung wird bleiben, auch wenn das äußere Leben und Erleben wieder in seine gewohnten Bahnen zurückgekehrt ist.
Durch ihre eindrückliche Form, ihre sparsamen Gesten, ihre Präsenz, ihre Sprödigkeit, ihre Kontemplation und die ihnen innewohnende Schönheit erweitern und bereichern die Arbeiten von Angela Stauber und Micha Eden Erdész unser Dasein.
Andreas Kühne
Thoughts on the exhibition “About Joy and Disappointments” by Angela Stauber and Micha Eden Erdész at the Kunstverein Ottobrunn
“Saxa loquuntur” – “The stones speak” is a Latin phrase that has its origins in the darkness of history. It can also be found in the Lucas Gospel (19.40), but there – in the German translation by Martin Luther – the stones “scream”. In the more recent works by Angela Stauber and
For Micha Eden Erdész it is not so much the stones that “speak” due to their materiality than the “buildings” formed from them – and other materials – that are individually seen and designed and interpreted with different artistic means. “Aedificia loquuntur” – could be a motto of your exhibition in Ottobrunn.
Both artists use their own means to project their visual impressions onto the surface and invite us, the viewers, to participate in this transformation process and to be inspired by their interpretations. “Buildings”, and this is what the oldest surviving testimonies and fragments do, always reflect social, i.e. H. cultural conditions. The visual experiences selected and condensed by both artists, however, do not relate to historical buildings and cityscapes. With their work, they do not want to document and preserve, but rather question and reflect on their perception of architecture. For both artists, the “strange everyday” is the subject of their painted, drawn, photographed and staged works. Or, as Duan Hanson once put it: it’s about “just that fixed moment”. Her objects, buildings and urban landscapes have no or only a very mediated symbolic dimension.
On closer inspection, the question arises as to why and what your works tell about, whether they tell anything at all. Micha Eden Erdész, who was born in Toronto in 1975 and studied architecture and philosophy, explains his artistic strategy using the large photo tableau „Happy Games“ that the „Olympic tent roof“ designed and realized by Günter Behnisch and Frei Otto (1972) recreated in Munich with his means: During a visit to the Bavarian capital, he photographed and filmed this incunable of modern architecture and later edited and alienated it. Projected onto a base made of Lycra fabric, individual acrylic glass elements of the roof construction shine in the glaring sunlight, raindrops fall on the roof, the pylons cast shadows and the vertical lines of Olympic rings – later composed – structure the tableau. Regardless of its size, the picture does not appear monumental, but subtle, even downright intimate – as a representation of a perceived, captured and reflected moment that cannot be repeated in this way.
Erdész, the artist of Canadian origin, also connects the 1972 Summer Olympics with a tragic event: the attack by Palestinian terrorists on Israeli athletes. Members of the Canadian water polo team had – naively and not knowing what they were getting into – helped the terrorists to overcome the fence that surrounded the Olympic village. Some of the Canadian athletes, completely surprised by the terror that set in later, felt complicit and left the Games. This story is, as it were, inscribed in Erdész’s tableau, but he does not surface it. He did not want to create a “memorial”, says the artist. His aim was to deal with the subject with aesthetic means.
As a multimedia, or rather intermedia, artist, Micha Eden Erdész also appreciates traditional media, painting and drawing. He found it a “stroke of luck” that Angela Stauber, his temporary neighbor in a London studio, was a “real painter”. Their neighborhood led to a conversation that has continued to this day, that became productive and ultimately led to a joint exhibition in Ottobrunn.
Angela Stauber studied painting at the Academy of Fine Arts in Munich and graduated in 2005 with a diploma as a master class student with Sean Scully. Foreign scholarships have taken her to the USA, Romania and Great Britain. Her painting, which always starts from the object and sometimes leads to almost abstract formulations, is a possible direction in the extremely diverse, colorful, barely manageable spectrum of today’s visual arts.
In the last few years of her work, the painter has developed and followed various motifs. She forms her pictures from direct, very precise observation – regardless of whether the motifs she observes are human bodies, interiors – or buildings. In other words: they are dialogues with what has been seen, dealing with situations, moments, coincidences, presence and liveliness. These images imply a becoming and passing away and yet they can only capture individual moments that are irretrievably lost as soon as they have been recognized and banned. This connects them with the work of Micha Eden Erdész.
Since her studio is located in Munich’s “Werksviertel-Mitte”, in other words, in an environment that is subject to constant, almost daily change, it made sense to deal with this very environment in front of her studio windows.
Sometimes she expands her view of a larger section of “reality”, sometimes narrowing it down to a detail that takes on a life of its own in her painting. Her watercolors with a static effect, such as the “light room”, made up of delicate yellow, green, blue and orange colors, avoid white. The situation is different with the larger, more loosely built and more expressive acrylic paintings on paper. She has drawn a horizontal line with adhesive film over the windows of the Ottobrunner Kunstverein, which are located behind an arcade, which looks like a classic “repoussoir”. It averts the viewer’s gaze, pushes it back, and at the same time arouses curiosity about the visual events behind it in the exhibition space.
“About joy and disappointment” is the name of the exhibition in Ottobrunn. And of course the title also refers to the current situation in the corona pandemic. But at the same time he points beyond: To “joys and disappointments” as emotions that are part and parcel of an artistic creation that strives for substance. During the pandemic, both artists found their studios to be a haven in the midst of a world ravaged by tremors and pain. This experience will remain even when the outer life and experience has returned to its usual path.
With their impressive form, their economical gestures, their presence, their brittleness, their contemplation and their inherent beauty, the works of Angela Stauber and Micha Eden Erdész expand and enrich our existence.